Von Mut und Feigheit

Wer traut sich?

Vor einiger Zeit war ich zu einer wahren Märchenhochzeit geladen. Während der mehrtägigen Feierlichkeiten in der Toskana erzählte der Bräutigam irgendwann von Alpträumen, die ihn plagten: Erst fand er sich im Traum mit der falschen Frau vor dem Altar wieder. In der nächsten Nacht ließ ihn die Braut kurz vor der Zeremonie sitzen.
Träume, die man erzählt, gehen nicht in Erfüllung. Und so fand die Hochzeit ganz wie geplant und mit der richtigen Frau statt. Dennoch verfolgte mich die Geschichte, die im echten Leben ja durchaus vorkommt. Die Angst vor der Hochzeit und der Bindung auf Lebenszeit, das Weglaufen kurz vor dem Ja-Wort oder gar das Nein im entscheidenden Moment – ist das eigentlich feige? Oder ist es vielmehr mutig, im letzten Moment das Ruder herum zu reißen? Kann es gar mutig sein, Feigheit zu beweisen? 

Der Psychologe Andreas Dicks bezeichnet Mut als das Vermögen, aus einer freien Entscheidung heraus eine persönliche Gefahr einzugehen, und dies aus Liebe zum Guten und in der Hoffnung auf ein gutes Ende. Mut hat immer mit der Überwindung von Hindernissen oder dem Eingehen eines Risikos zu tun und bedeutet stets den Verzicht auf Sicherheit. Eine Ehe zu schließen,  sich ewige Treue zu versprechen angesichts des Risikos eines Scheiterns ist also durchaus mutig.

Demgegenüber gilt Feigheit als die Neigung, das Handeln durch Angst bestimmen zu lassen und sich Aufgaben aus Furcht vor Gefahr nicht zu stellen. Zugunsten eines kurzfristigen Vorteils längerfristige Ziele außer Acht zu lassen, ist feige. Die Braut oder den Bräutigam kurz vor dem Ja-Wort stehen zu lassen, weil man es mit der Angst zu tun bekommt, ist demnach feige. Diese Betrachtung ist einleuchtend, aber ein wenig zu einfach.

Aus anderer Perspektive könnte man nämlich auch sagen: Es ist mutig, unter dem Erwartungsdruck der Braut bzw. des Bräutigams und der gesamten anwesenden Hochzeitsgesellschaft auf sein Bauchgefühl zu hören und die Ehe nicht anzutreten. Sich Erwartungen zu widersetzen, um sich selbst treu zu bleiben gilt gemeinhin als überaus mutig. Auch andere Beispiele zeigen, dass nicht zwangsläufig feige ist, wer Risiken meidet: Wenn sich Jugendliche aus Angst vor der Gefahr dubiosen Mutproben entziehen und damit einem Gruppendruck widersetzen, gilt das in unserer Welt als mutig. Wer in unserer auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft Schwächen zugibt und zu seinen Ängsten steht, ist es ebenfalls.

Je nach Perspektive kann eine Handlung also als mutig oder als feige bewertet werden. Für mich heißt das aber nicht, dass sie auch beides zugleich IST. Mein Bestreben, mit Barmherzigkeit und wohlwollenden Blick nicht zuletzt auf meine eigene Feigheit zu schauen verbietet mir, Feigheit zu verurteilen. Menschen werden schwach, verlieren die Beherrschung und das Gute aus dem Blick. Hin und wieder möchte ich feige sein dürfen, ohne an den Pranger gestellt und gebrandmarkt zu werden. Zur Tugend mag ich die Feigheit trotzdem nicht erklären und sie auch nicht beschönigen, indem ich sie umdeute in Klugheit, Besonnenheit oder eben Mut.

Feigheit ist Teil unseres unfreien Menschseins. Sie liefert uns der Angst aus, macht uns unmündig und paradoxerweise, obwohl wir die Gefahr ja gerade vermeiden wollen,  zu Opfern. Feigheit ist „bequem“ und mit ihr schrumpfen unsere Ansprüche an das Leben.

Dies ist ein Plädoyer für den Mut. Ohne Mut ist nämlich alles nichts: Unser Gerechtigkeitssinn, unsere Ehrlichkeit, unsere Liebe – alles versagt, wenn wir im entscheidenden Moment verzagen. Wir brauchen den Mut. Nicht zuletzt, um uns unsere Feigheit zu verzeihen und uns und andere immer wieder neu zu ermutigen.


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