Von Mut und Herzensbildung

Schwere Geburt

Kürzlich stolperte ich über die Geburtsanzeige in einer regionalen Tageszeitung. Ich schreibe bewusst die Geburtsanzeige, weil es nur diese eine gab und weil sie nicht zu übersehen war. Genaugenommen war es nämlich ein Geburtsreport. Über eine halbe Seite bekundeten die frischgebackenen Eltern Ihre Freude über das neugeborene Mädchen und ließen den geneigten Leser an den, sagen wir mal, Verwicklungen der Geburt teilhaben. Vor dem Hintergrund des schwierigen Geburtsverlaufs wurde auch der Name des Kindes erklärt: Lyra. Unter anderem bedeutet das „die Mutige“. Offensichtlich hatte sich das Baby mutig durch die Geburt gekämpft. Und Mut sollte es nun auch seinen restlichen Lebensweg über begleiten. Ich stutzte und begann zu überlegen: Werden wir Menschen tatsächlich mutig geboren? Oder erlangen wird diese Tugend erst im Laufe unseres Lebens? Kann man Mut lernen?

Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass es eine genetische Veranlagung für Mut gibt und dass das Persönlichkeitsmerkmal Mut entsprechend erblich ist. Auch scheint der Hormonspiegel der Mutter Einfluss darauf zu haben, ob ein Baby eher vorsichtig ist oder forsch auf neue Dinge zugeht. Neben dieser biologischen Sichtweise geht die große Mehrheit der Experten jedoch davon aus, dass Mut zumindest auch eine kontextabhängige Eigenschaft ist. Sprich: Mut kann gelernt werden.

Im Internet finden sich etliche Mentaltrainings, die helfen sollen, mutiger zu werden. Verschiedene Übungen regen dazu an, sich mit den persönlichen Ängsten auseinanderzusetzen und ein besseres Verhältnis zu ihnen zu erlangen. Andere Übungen helfen dabei, ganz kleinschrittig Hürden zu bewältigen und so Stück für Stück mehr Mut zu fassen und die Mutspirale positiv in Gang zu setzen. Dagegen habe ich grundsätzlich nichts einzuwenden. Einige der Übungen nutze ich selbst in meiner Coachingpraxis durchaus mit Erfolg. Allerdings stört mich, dass Mut hier auf eine rein mentale Angelegenheit reduziert wird. Für mich beginnt Mut nicht im Kopf. Mut beginnt im Herzen. Mut ist eine Tugend, die aus und an der Beziehung zu anderen wächst. Mut kann man lernen, aber weniger mit dem Kopf, als durch Herzensbildung. 

Dazu gehört im ersten Schritt in der Tat, sich Mutsituationen vor Augen zu führen und den Blick zu schärfen für eigene Schwächen und Ängste, um sie barmherzig anzunehmen. Das fällt leichter, wenn man umgeben ist von Menschen, die einem Vertrauen schenken und Fehler verzeihen können.

Zur Herzensbildung gehört aber auch, Hoffnung zu stärken auf etwas Gutes und Sinnvolles, wofür es sich einzutreten lohnt. Hoffnung wird konkret in Bildern von einer Zukunft. Und Hoffnung verstärkt sich, wenn man nicht alleine hofft, sondern auch andere die Chancen auf das Erreichen eines Ziels positiv einschätzen. Hoffnung aufkommen zu lassen, Hoffnungen in Zukunftsbildern zu manifestieren und mit anderen zu teilen stärkt das Herz – und den Mut. 

Zum Mut gehört schließlich immer auch ein Wille, der in eine Handlung mündet. Dieser Handlungsimpuls, der aus der Komfortzone herausführt und von der Bereitschaft zeugt, im Interesse eines höheren Wertes Unbequemes auszuhalten, ist selten kopfgesteuert. Sicher lässt sich Vieles im Abwägen bewusst entscheiden. Doch der Impuls zur Selbsthingabe ist nicht rational. Vielmehr ist Liebe, die man selber empfindet und die man von anderen erfährt die Grundlage dafür. Eine echte Herzensangelegenheit also.

Mut kann man lernen, indem man Herzensbildung betreibt. Das ist mitunter schmerzvoll – wie eine schwere Geburt. Die kleine Lyra dürfte ihrem Namen alle Ehre machen. Die schwere Geburt hat sie schon hinter sich. Und offensichtlich hat sie gute Gene. Auch ihre Eltern scheinen recht mutig zu sein. Das haben sie mit der Anzeige unter Beweis gestellt.


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