Wie man beurteilt, was mutig ist

Fast wie bei der Mondlandung

Neulich bin ich beim Schmökern in einer Zeitschrift über einen dieser Pro und Contra-Artikel gestolpert. Es ging um die Frage, ob es mutig ist, sich als Normalo ohne Modellmaße nackt und ungeschminkt auf Fotos zu zeigen. Zwei Autorinnen nahmen dazu Stellung. Ich versuchte es auch. Sehr schnell kam ich zum politisch korrekten „Ja“, denn Kampagnen wie #ichbinschön oder das Filmprojekt „Embrace“ finde ich gut und sinnvoll. Aber während mein Mund noch „selbstverständlich“ antwortete, schwenkte mein Hirn auf „Moment mal“ um. Was bitte hat denn die Abweichung von oberflächlichen Schönheitsidealen mit Mut zu tun? Ist Mut nicht eine Tugend, etwas Großes, Ernsthaftes und Bedeutsames? Und nach welchen Kriterien lässt sich überhaupt bemessen, was mutig ist?

Bei aller Unterschiedlichkeit der Definitionsversuche in zahlreichen Nachschlagewerken: In der Regel wird Mut als eine Eigenschaft beschrieben, die dazu befähigt, sich wissentlich und willentlich in eine mit Gefahr und Unsicherheit verbundene Situation zu begeben. Bewusstsein, Wille und die – mehr oder weniger freie – Entscheidung für ein Risiko oder eine Gefahr sind also Grundkriterien von Mut. Wer gar nicht weiß, dass es ein Risiko bedeuten kann, sich ungeschminkt zu zeigen, ist ebenso wenig mutig wie derjenige, der ein solches Foto unbeabsichtigt von sich postet. Während der Aspekt des Vorsatzes vergleichsweise simpel zu fassen ist, bleibt die Frage nach dem Risiko etwas, das sich kaum eindeutig beurteilen lässt. Sie ist vielmehr abhängig von der Perspektive, aus der man eine Antwort zu geben versucht.

Die Bewertung des Risikos hängt neben berechenbaren Fakten vom sozialen Kontext ab - von den in der Gesellschaft geltenden Normen, Werten und Gebräuchen. So ist z.B. das Risiko, Opfer eines Flugzeugabsturzes zu werden relativ gering. Dementsprechend gilt man in Deutschland gemeinhin nicht als besonders mutig, wenn man eine Maschine besteigt, um von Berlin nach München zu fliegen. Für einen Passagier mit Flugangst stellt sich das aber völlig anders dar. Das berechenbare Risiko bleibt gleichermaßen gering, das persönliche, gefühlte Risiko und die zu überwindende Angst jedoch können immens sein. Mit dem Mut ist es deshalb ein bisschen wie bei der Mondlandung, nur umgekehrt: Was ein kleiner Schritt für die Welt ist, kann ein riesiger Sprung für einen Menschen sein.

Aus diesem Grund kommt es für mich vor allem auf die Einschätzung der agierenden Person an, die

über Mut oder Mutlosigkeit einer Handlung entscheidet. Nur die individuelle Bewertung kann sagen, wie groß die Überwindung ist. Das Maß der Überwindung ist dann, wenn Sie so wollen, das Maß des Mutes.

Wenn Mut eine Tugend ist, dann vor allem deshalb, weil Menschen wachsen, wenn sie ihre Grenzen überwinden. Weil Entscheidungen (auch die manchmal besonders mutigen, gerade kein Risiko einzugehen) zu einem selbstbestimmten Leben gehören. Weil Mut bedeutet, in schwierigen Situationen handlungsfähig zu sein. Und weil das, was Einzelne wagen, immer auch Wirkung auf die Gesellschaft hat, in der sie leben. Mut ist, so gesehen, tatsächlich etwas Großes, Ernsthaftes und Bedeutsames. Mit oberflächlichen Schönheitsidealen hat er zumindest gemein, dass beides im Auge des Betrachters liegt. Und was die Frage im erwähnten Artikel betrifft: Die muss zunächst einmal jeder für sich selbst beantworten. Aus gesellschaftlicher Perspektive aber bleibe ich doch beim Ja. Ja, es ist mutig, sich in unserer Welt als normaler Mensch zu präsentieren. So wie man ist. Dass ich bedaure, dass das so ist, ist dann wieder ein anderes Thema.


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