Verletzlichkeit und Alter

Zum Wohl, Frau Brandt!

Mein Vater hatte einen Zeitungsladen am Berliner Gesundbrunnen, einem Arbeiterkiez mit ziemlich vielen schrulligen, aber herzensgeraden Menschen. Eine seiner Kundinnen war Frau Brandt. Eine alte Frau, die ich nur als „das Mütterchen“ bezeichnete und die aussah wie die Hexe im Märchenbuch: klein, gebeugt, am Stock, stets mit Kopftuch, mit einer großen Nase und einer dicken Warze im Gesicht. Mit rauer Stimme bestellte sie ihre Brause-Flaschen, die sie – anders als Kunden, die viel besser zu Fuß waren als sie – immer selbst nach Hause trug. Wenn alle Waren in ihrem schwarzen Beutel verschwunden waren, wackelte sie zur Tür heraus und hinterließ einen Geruch, den ich seither mit alten Frauen verbinde. Andere Kunden meckerten oft über sie, eben weil sie so streng roch und mit ihrem Stock im kleinen Laden im Weg war. Wenn ich zurückdenke, steigt Mitleid in mir auf. In meiner Erinnerung ist diese alte Frau unendlich verletzlich. Und so muss ich fragen: Macht das Alter uns Menschen tatsächlich besonders verletzlich?

Aus gerontologischer Sicht sind im hohen, dem sog. Vierten Alter ab etwa Mitte 80, in physiologischer und psychologischer Hinsicht zahlreiche Leistungsrückgänge zu verzeichnen. Es besteht eine zunehmende Anfälligkeit für Krankheiten, gibt Einbußen in der körperlichen wie geistigen Leistungsfähigkeit und Einschränkungen bei alltagsbezogenen Fertigkeiten. Das Erleben der zunehmenden Gebrechlichkeit wird von den alten Menschen selbst, aber auch von ihren Angehörigen oft im Sinne einer erhöhten Verletzlichkeit gedeutet. Bemerkenswert finde ich dabei, dass die Beschreibung des hohen Alters vor allem an leistungsbezogenen körperlichen und kognitiven Merkmalen festgemacht wird. Der Rückschluss auf die erhöhte Verletzlichkeit wird also vor allem daraus gezogen, dass die Leistungsfähigkeit vermindert ist. Ganz abgesehen davon, dass man hinterfragen könnte, was Verletzlichkeit mit Leistung zu tun hat, muss man einräumen, dass die genannten Defizite des Alters in vergleichbarer Art und Weise auch auf Babys und Kleinkinder zutreffen. Sie sind ebenso verletzlich wie alte Menschen. Im Gegensatz zu alten Menschen wird die Verletzlichkeit der Jungen aber anders gesehen: Sie steht am Anfang des Lebens, kann überwunden werden, eröffnet Entwicklungsmöglichkeiten und führt hinein ins Leben. Bei den Alten steht die Verletzlichkeit viel stärker im Licht der unumgänglichen Lebensgrenze, dem Tod.
Und so meine ich, dass nicht das Alter uns verletzlicher macht, sondern vor allem unsere Sicht darauf. Das Alter selbst bringt keine erhöhte Verletzlichkeit, sondern eine andere Verletzlichkeit mit sich. Sie wird sichtbarer und ist aufgrund gesellschaftlicher Paradigmen wie Leistung und Optimierung körperlicher Funktionen in erster Linie zugeschrieben. Der emotionale Umgang mit dem Erkennen des Rückgangs der eigenen Fähigkeiten, mit dem Abschied von Routinen ist fordernd und wirft ganz neue Lebensthemen auf, die auf andere Art verletzlich machen.
Wie also könnte man auf das Alter schauen? Und wie mit Verletzlichkeit im Alter umgehen?
Ein Ansatz ist sicher, die Potenziale des Alters in den Blick zu nehmen. Worin liegt seine besondere Kraft? Was wird erst möglich, wenn man viel Leben gelebt hat? Welche Entwicklungsmöglichkeit entsteht aus Grenzsituationen, die ja immer auch Klarheit schaffen können?
Ein anderer Schritt wäre, jenseits aller pflegerischen Notwendigkeiten „Sorgestrukturen“ zu bieten, in denen Menschen erlebte Verunsicherungen bergen können. Das muss nicht das Gespräch, es kann auch eine liebevolle Umarmung oder ein zärtlicher Blick sein. Eros im besten Sinne: Das Zeichen, das signalisiert, dass man zusammen etwas weiß: nämlich, dass das betagte Gegenüber im Leben ist.
Und schließlich geht es darum, Demütigung und Entwertung zu vermeiden. Nicht reglementieren und überbehütend Freiheiten nehmen, nicht verniedlichend oder verharmlosend aus der Frau das Mütterchen machen, nicht das Menschsein absprechen, nicht jemanden für tot erklären, weil er anders ist.
Wenn ich es mir recht überlege, gilt das eigentlich für jedes Lebensalter: Möglichkeiten sehen. Den anderen trotz seiner Schwächen im Leben sehen und wertschätzen. Nicht klein machen. Darum an dieser Stelle: Frau Brandt war eine alte, gebeugte Dame, die ihre Brauseflachsen ganz allein nach Haus trug. Und wenn ich könnte, würde ich ihr gerne zwinkernd mit einem Glas Limo zuprosten.


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